Selbstbestimmungsgesetz im Anflug

Nora Dahmer • Juli 08, 2022

Bald kommt hoffentlich das neue Gesetz

In der vergangenen Woche wurden die Eckpunkte des neuen Selbstbestimmungsgesetzes vorgestellt. Damit würde das „verstaubte“ Transsexuellengesetz aus den 80er Jahren entfallen können.


Doch bereits im Vorfeld gab es wütende Aufrufe von verschiedenen Gruppierungen, die diese Gesetzesvorhaben ablehnen. Dass diese aus erzkonservativen und aus rechtsradikalen Kreisen geäußert werden, ist erstmal nicht verwunderlich.


Aber immer mehr Menschen, die eigentlich für eine Veränderung der Gesellschaft in Richtung Offenheit stehen müssten, lassen sich in den Sog hineinziehen, dass das neue Gesetz doch viel zu liberal wäre. Die Argumente sind vielseitig:


Die einen sind der Meinung, trans Frauen seien gar keine richtigen Frauen, sondern wollten in die Safe Spaces von Frauen kommen und dort Unsicherheit schaffen.


Andere sehen die Bedürfnisse der trans Menschen als ein rein psychisches Problem, da es laut ihnen nur zwei biologische Geschlechter gebe und eine Abweichung davon, mit Ausnahme von intersexuellen Menschen, entsprechend reine Kopfsache wäre. 


Die meisten Menschen jenseits der 40 sind in einer Gesellschaft aufgewachsen, die das heteronormative Idealbild (Mann + Frau + Familie) in den Vordergrund stellte. Menschen jenseits dieser Normen waren selten in der Öffentlichkeit sichtbar, was aber eher daran lag, dass sich diese Menschen nicht trauen konnten oder wollten, ihre eigentlichen Gefühle und Bedürfnisse offen zu benennen.


Heute ist das anders, mehr und mehr Menschen stehen offen dazu, wer sie sind. Sie sehen endlich einen Weg, ihre tatsächlichen Bedürfnisse zu artikulieren und zu leben. Gott sei Dank!“


Während ich heute sehr froh bin, dass queere Menschen endlich frei ihr Leben gestalten können und schon deutlich mehr Akzeptanz in der Gesellschaft finden, machen mich die Reaktionen auf das neue Selbstbestimmungsgesetz sehr nachdenklich.


Das Selbstbestimmungsgesetz gilt insbesondere für trans und non-binäre Menschen. Das sind Menschen, die sich nicht oder nur zum Teil mit dem ihnen biologisch zugeordneten Geschlecht identifizieren können. Auch für sie könnte es nun viel einfacher sein, ihre echte Identität durch vereinfachte Personenstands- und Namensänderung zum Ausdruck zu bringen.


Ich selbst habe 40 Jahre mit der Angst gelebt, dass meine Transidentität bekannt wird und ich unter familiärer und gesellschaftlicher Diskriminierung leiden muss. Schon seit meiner Jugend fühlte ich mich als Frau. Dennoch habe ich dem „heteronormativen Idealbild“ entsprochen. Ich bekam eine tolle Familie und war in Beruf und Gesellschaft gutbürgerlich und erfolgreich.


Jetzt gibt es sicher viele Menschen, die der Meinung sind, dann wäre ja alles gut und würden mir gratulieren. Aber sie alle kennen nicht die Sehnsüchte und Qualen, wenn man nicht in der echten Identität leben kann. Wenn man beim Blick in den Spiegel über all die Jahre einen fremden Menschen sieht. Dieser natürliche Instinkt, man selbst sein zu wollen, wird von cis Menschen als das selbstverständlichste auf der Welt wahrgenommen. Das innere Leid von transidenten Menschen nachzuempfinden, bleibt ihnen damit verwehrt.


Natürlich bin ich in einem biologisch männlichen Körper auf die Welt bekommen. Alle äußeren Merkmale wiesen eindeutig auf einen Mann hin. Aber steht der Körper tatsächlich in der Bedeutung über dem individuellen Empfinden des Betroffenen? Hat man sich deshalb der Einordnung in „männlich“ und „weiblich“ zu fügen?


Ich selbst habe mit 57 Jahren den Weg als Frau begonnen. Nicht, weil die Gesellschaft endlich liberaler geworden ist, sondern weil ich gesundheitlich nicht mehr konnte. Mein Körper hat heftig auf die ständige Unterdrückung und Verdrängung reagiert und mich abgestraft.


Bin ich deshalb ein psychisch kranker Mensch, nur weil ich mich mit meiner männlichen Identität nicht abfinden konnte? Lebte ich 40 Jahre in einer falschen Vorstellung, in der ich mich in etwas hineingesteigert habe, was ein guter Psychiater sicher heilen könnte? Oder wollte ich einfach nur die Frauenwelt unterwandern und als „biologisch falsche“ Frau einen neuen Weg gehen? Habe ich trotz guter Ausbildung, Studiums etc. einfach nicht begreifen wollen, dass ich ein Mann bin und das auch weiter so sein sollte?


Dass heute versucht wird, das notwendige Recht auf freie Entscheidung des Individuums ideologischen Gedankenwelten unterzuordnen, erschreckt mich.


Haben junge, aber auch ältere Menschen wie ich, die genau diese Identitätsthemen zu bewältigen haben, kein Recht darauf, sich frei zu entscheiden? Natürlich wird es Fälle geben, bei denen es zu falschen Entscheidungen kommen kann, wo andere Ursachen zu einer Fehleinschätzung führen. Aber sollen diese Einzelschicksale dazu führen, dass ein solches Selbstbestimmungsgesetz nicht umgesetzt werden soll?


Sollen betroffene Menschen weiterhin den teuren und diskriminierenden Weg gehen und Gerichte anfragen, doch bitte die Änderungen in den Ausweispapieren, angefangen bei der Geburtsurkunde, durchführen zu dürfen? Macht es der Weg über Psychiater*innen, die einen in der Regel einige Stunden befragen dürfen, richtiger, diesem Wunsch zuzustimmen? Ist es das Recht der Gesellschaft, Menschen, die einfach nur eine andere Identität haben wollen, auf so eine Probe zu stellen? 


Wie erniedrigend es ist, vom Schicksal einer*s Psychiater*in abhängig zu sein, die*der nach wenigen Stunden Gespräch die Entscheidung fällt, ob der Weg beschritten werden kann oder nicht, ist vielen dabei nicht bewusst.


Sehen so die Achtung der Menschenrechte und Würde in einer angeblich offenen und vielfältigen Gesellschaft aus? Allein deshalb ist das Selbstbestimmungsgesetz jede Mühe wert, verabschiedet zu werden. 


Aber wer lieber ideologische Diskussionen wie „biologische Fakten“, „keine echten Frauen/Männer“, „steht so nicht in der Bibel“ etc. führen will, zeigt, dass die Akzeptanz einer offenen und vielfältigen Gesellschaft noch ein weiter Weg ist. 


Ich selbst führe heute endlich ein glückliches, weil in echter Identität existierendes Leben.


Es ist doch absurd, sich vorzustellen, dass Menschen einfach, weil ihnen danach ist, ihren Namen und ihren Personenstand ändern. Die riesige Herausforderung der Betroffenen, in einer immer noch von alten Normen geprägten Gesellschaft im anderen Geschlecht zu leben, wird immer noch massiv unterschätzt. Und wer glaubt, die Betroffenen wollen einfach nur einen eleganteren Weg in ihr neues Leben, unterschätzen diese Menschen und die Komplexität des Ganzen. Und die Menschenwürde von trans und non-binären Menschen haben sie dabei auch vergessen. Oder es ist ihnen aus ideologischen Gründen egal.


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In den letzten Wochen hatte ich mehrere Veranstaltungen, bei denen ich über das Thema "trans*" und "LGBTQIA+" aufklären durfte. Da war zum einen ein einstündiger Vortrag zum Thema "Mehr Wissen über trans" im Rotary-Club Solingen Klingenpfad. Komprimiert habe ich aus meinem Leben erzählt, um den Teilnehmenden die Besonderheit der Trans-Eigenschaft im persönlichen Kontext zu vermitteln. Dazu gab es wichtige Fachbegriffe, Zusammenhänge etc. Im Werner-Richards-Berufskolleg der Evangelischen Stiftung in Volmarstein und auch auf einer überregionalen Schulleiterkonferenz in Münster hatte ich dann jeweils drei bis vier Stunden Zeit, die Teilnehmenden mit vielen Details für die Hintergründe und Besonderheiten der Mitglieder aus der LGBTQIA+ zu sensibilisieren und Unsicherheiten und Irritationen zu nehmen. Vor diesen Veranstaltungen dachte ich, als Speaker könne mich nichts mehr überraschen. Aber ein so aufmerksames und mitgehendes Publikum wie in diesen Veranstaltungen habe ich noch nie zuvor erlebt! Ganz offensichtlich treffe ich mit meiner Veranstaltung "Mehr Trans*parenz" den richtigen Ton und einen besonderen Nerv. In meiner Zeit als Krisenmanager habe ich mehr als 100 Workshops etwa zum 'Turnaround in der Krise' veranstaltet und Vorträge gehalten. Sachlich, analytisch, zielorientiert. Nun standen die Veranstaltungen unter dem Motto "Lebensnah, authentisch, greifbar!" Und ich war total beeindruckt, wie neugierig und fokussiert die ZuhörerInnen waren. Ganz offensichtlich ist dieses Thema in der Gesellschaft angekommen. Vor meinem Golfurlaub in Spanien durfte ich dann noch bei einer Podiumsdiskussion zum Thema "Diversität" am Deutschen Beratertag des BDU teilnehmen. Auch hier traf ich auf sehr viel Interesse. Worum genau geht es mir bei meinen öffentlichen Auftritten? Mein Ziel ist es, eigene Erfahrungen und fundiertes Hintergrundwissen an Multiplikatoren (Führungskräfte und Lehrkräfte) zu vermitteln, um die Akzeptanz der wachsenden LGBTQIA*-Community zu verstärken. Konkret will ich für einen offenen und unaufgeregten Umgang mit MitarbeiterInnen und SchülerInnen werben, die trans* sind. Ich berichte dabei sehr offen und persönlich über meinen langen Weg vom Mann zur Frau. Über die Qual der Entscheidung, aus der Position eines erfolgreichen Unternehmers heraus den Weg zu meinem wahren Ich zu gehen und ein komplett neues Leben zu beginnen. Anhand meiner Vita will ich aufklären, Vorurteile und Unsicherheiten in der Begegnung mit trans* Menschen abbauen. Dazu braucht es auch Fakten und Zahlen (soweit seriös herleitbar) und Begriffserklärungen, die ich in meinen Vorträgen selbstverständlich mitliefere. Dieser Mix kommt wohl gut an. Das Feedback, die ich im Rahmen meiner Veranstaltung "Mehr Trans*parenz" erhalten habe, zeigt generell eine überaus positive Resonanz. Daran will ich anknüpfen, denn in Schulen und Unternehmen gibt es noch so viel Aufklärungs- und Akzeptanzbedarf. Deshalb würde ich mich freuen, wenn Sie meinen Vortrag mit Diskussion als Veranstaltung (zwischen 1 und 4 Stunden je nach verfügbarem Zeitfenster) in Schulen, Verbänden und Unternehmen vorschlagen.
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